Hinter 24. Türchen warten hier täglich neue Texte, von Elfchen bis zu mehrteiligen Kurzgeschichten:
Der Tannenbaum
Erster Teil der Kurzgeschichte von Imke Claußen (11e), morgen folgt der zweite von drei Teilen
Ich hatte mein ganzes Leben bisher an einem einzigen Ort verbracht. Das mag vielleicht langweilig klingen, aber das war es nicht, im Gegenteil. Ich mochte mein Leben. Ich mochte es, wie ich jederzeit mit meinem Wurzeln das Wasser aus der Erde ziehen konnte, mochte es, wie sich manchmal Vögel auf meinen Ästen niederließen, es gefiel mir, wie der Wind durch meine Zweige rauschte und Rehe um meinem Stamm strichen. Nichts musste an meinem Leben geändert werden, es war gut so. Aber eines Tages änderte sich doch etwas. Es begann mit lauten Geräuschen. Die Vögel, die auf meinen Ästen saßen, flogen erschrocken davon und die Rehe versteckten sich. Die Geräusche kamen näher. Kurz darauf konnte ich sie zwischen den anderen Bäumen hindurch sehen: eine Menschenfamilie, Mama, Papa und zwei kleine Kinder, die durch die Wald stiefelten, als wären sie völlig allein hier. Menschen glauben immer, die ganze Welt gehöre ihnen, zumindest die wenigen, denen ich bisher begegnet war. Die Familie jedenfalls trampelte ungerührt über die Erde, knickte Zweige und Äste ab, um an ihr Ziel zu kommen. Immer wieder blieben sie kurz vor einem meiner Brüder stehen, sahen sich an, dann wieder meinen Bruder, bis irgendeiner den Kopf schüttelte. Dann gingen sie weiter. Ein seltsames Ritual. Irgendwann blieben sie vor mir stehen, betrachten mich, dann sich gegenseitig und ich wartete auf das Kopfschütteln. Aber stattdessen nickte der große, der Vater. „Den nehmen wir“, sagte er und dann tat er das Grauenvollste, was ich je erlebt hatte...