Hinter 24. Türchen warten hier täglich neue Texte, von Elfchen bis zu mehrteiligen Kurzgeschichten:
Weihnachten – ein fröhliches Fest?
Zweiter Teil der Kurzgeschichte von Imke Claußen (11e), den ersten Teil gab es hinter dem 1. Türchen (siehe unten)
... Den Ball kann er sehen, er liegt nur wenige Meter von ihm entfernt im Gras, eine schwarz-weiße Kugel, die kaum von dem weißen Schnee zu unterscheiden ist. Tim fällt auf, dass der Schnee in Frau Schäfers Garten noch unberührt ist, als hätte er sich gerade erst dort niedergelassen. Keine einzige Fußspur durchbricht das Weiß. Ganz anders als bei ihm zuhause, wo er schon heute Morgen freudestrahlend die Idylle zerstört hatte. Mit fünf großen Schritten erreicht er den Ball, bückt sich und atmet erleichtert auf, als er das runde Leder sicher in den Händen hält. Jetzt muss er es nur noch zurück zur Straße schaffen. Aus dem Fenster, das dem Garten zugewandt ist, fällt gelbes Licht auf den Schnee und Tim kann im Inneren des Hauses sehen, wie sich jemand bewegt. Seine Knie werden weich. Er muss hier weg. Ob Frau Schäfer ihn wohl wegen Einbruch anzeigen könnte, wenn sie ihn in ihrem Garten antreffen würde? Vielleicht müsste er dann ins Gefängnis. Vorsichtig und langsam tritt er den Rückzug an, direkt an dem Fenster vorbei. Er hat Angst, sein Atem geht schnell. Aber er ist auch neugierig. Was tut Frau Schäfer eigentlich, wenn sie allein ist? Wenn sie wirklich eine Hexe ist, vielleicht ist sie dann ja gerade am Kräutertee kochen. Oder sie hat so eine Kristallkugel, durch die sie die Kinder auf der Straße beobachtet. Ohne sich bewusst dafür zu entscheiden, nähert sich Tim dem Fenster. Nur einen Blick hineinwerfen, was kann das schon schaden? Solange er vorsichtig ist…
Er schleicht noch näher, läuft geduckt, den Kopf hält er ganz tief. Unter der Fensterbank kauert er sich hin und schielt vorsichtig über den Rand. Er sieht in ein Wohnzimmer, dem bei sich zu Hause gar nicht so unähnlich: Ein Sofa, eines mit so hässlichen Blumenmustern wie das seiner Oma, ein Fernseher, ein Tisch, auf dem ein einzelnes Glas steht und ein Sessel. In dem Sessel sitzt die alte Frau Schäfer. Sie guckt etwas im Fernsehen, weshalb Tim ihr Gesicht im Profil sehen kann. Ihre Wangen sind runzelig, ihre Augen dunkel. Irgendwie sieht sie gar nicht gruselig aus. Eher ein bisschen traurig. Erschreckt stellt Tim fest, woran das liegt: Eine einsame Träne rollt die Wange der alten Frau hinab. Das versteht Tim nicht. Es ist Weihnachten. Alle Leute müssten glücklich sein. Schließlich gibt es an Weihnachten Geschenke und frohe Lieder und alle sitzen gemütlich beisammen. Er runzelt die Stirn. Seine Augen suchen Frau Schäfers Tannenbaum, unter dem ihre Geschenke liegen müssten, aber er findet keinen. Das ist seltsam. Feiert die Frau etwa kein Weihnachten? Einen Adventskranz kann er aber sehen, einen kleinen, der auf dem Regal steht. Die Kerzen sind fast ganz heruntergebrannt. Auf einmal wird Tim traurig, ohne sich erklären zu können, wieso. Die alte Frau sieht so unglücklich aus. Gerade jetzt wird sie plötzlich von Schluchzern geschüttelt und Tim beißt sich auf die Lippe. Er ist sich auf einmal sicher, dass Frau Schäfer keine Hexe ist, sonst würde sie sich doch einfach glücklich hexen, oder? In seinen Gedanken herrscht ein ziemliches Chaos, als er sich leise vom Fenster zurückzieht, die restliche Entfernung zur Hausecke zurücklegt und wieder auf der Einfahrt steht.
Die anderen Kinder winken ihm von der Straße aus zu. „Wo warst du so lange?“, fragt einer von ihnen, als Tim auf sie zuläuft. „Ist nicht so wichtig“, winkt er ab und schießt dem Fragenden den Ball zu. Das Spiel kommt sofort wieder in Gang, Tim stürzt sich ist Getümmel und seine Gedanken beruhigen sich schnell wieder. Die alte Frau und ihr unglücklicher Gesichtsausdruck sind schon bald wieder aus seinen Gedanken verschwunden...
Der dritte Teil der Kurzgeschichte erscheint am 3. Advent (15.12.).